9. Informationsanschreiben der Deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie e.V.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitglieder,
am 04.11.2004 fand in Berlin die 2. Expertentagung der Deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie e.V. statt. Die Thematik „Verkehrspsychologische Testverfahren“ führte Experten aus Universitäten und Forschungseinrichtungen und aus der Praxis der Fahreignungsbegutachtung zusammen. Auch ein Vertreter einer Landesbehörde sowie der Bundesanstalt für Straßenwesen nahmen interessiert an der Veranstaltung teil. Die Teilnehmerliste kann beim Vorstand der DGVP eingesehen werden. Die hohe Aktualität des Themas spiegelt sich in fachlich hoch qualifizierten Beiträgen, in einer sehr angeregten Diskussion und auch in der Tatsache wider, dass die geplante Tagungszeit weit überschritten und eine Fortsetzung zu einem späteren Zeitpunkt gewünscht wurde.
Die Veranstaltung begann mit einem Beitrag von Wolfgang Jacobshagen „Leistungstests für Berufskraftfahrer bei Untersuchungen nach Anlage 5.2.“. Hier wurden insbesondere Fragen nach der Verwendung einer altersspezifischen Norm anstatt einer Gesamtnorm, nach der Berücksichtigung von Lerneffekten, der Zusammenfassung von Teilergebnissen von Leistungstests und nach der Validierung der Testverfahren aufgeworfen. Außerdem schlug Jacobshagen Verfahren zur Verbesserung der Qualitätssicherung auch bei Untersuchungen nach Anlage 5.2. vor. In der anschließenden Diskussion sprach sich die Mehrheit der anwesenden Experten für die Benutzung einer Gesamtnorm aus. Von mehreren Rednern wurde der Gesichtspunkt der optimalen Vereinbarkeit von wissenschaftlichen Anforderungen und politischer Vertretbarkeit dieser Anforderungen angesprochen. Im Folgenden wurde mehrfach die Notwendigkeit betont, von einer empirischen Normsetzung zu einer kriteriumsorientierten Norm zu kommen, der die Erfassung von Eignungsvoraussetzungen zugrunde liegt. Es wurde aber auch darauf hingewiesen, dass die kriterienorientierte Diagnostik in der Praxis auf Schwierigkeiten stößt.
Michael Berg stellte die „Entwicklung neuer Testverfahren auf der Grundlage des Konstituentenansatzes“ vor. Die Frage, wie gewährleistet sei, dass die definierten Konstituenten tatsächlich konstruktvalide und verkehrspsychologisch nützlich sind, beantwortete Berg dahingehend, dass Untersuchungen zur Differenzierung von verschiedenen Probandengruppen (Alkoholkranke, Alkoholklienten in MPU, Drogenauffällige) starke Unterschiede in den Testergebnissen ergeben hätten. Es wurde unterstrichen, dass besonders bedeutsam die Erklärung sei, wie, d.h. auf welchem Weg eine Person ein bestimmtes Testergebnis erreicht hat. Hier existieren große interindividuelle Unterschiede. Es wurde aber auch das Problem aufgeworfen, ob eine weitere Aufsplittung der Testverfahren in Basisleistungen möglich und sinnvoll sei und ob die untersuchten Personen mit unterschiedlichen Testverfahren gleichartig klassifiziert werden.
Birgit Bukasa berichtete in Zusammenarbeit mit Michael Hutter über die „Normierung verkehrspsychologischer Testverfahren“. Die anschließende Diskussion entzündete sich vor allem an der Frage, welche Normstichprobe zur Validierung von verkehrspsychologischen Testverfahren genutzt werden soll: Die der verkehrsauffälligen Fahrer oder eine Normalstichprobe unauffälliger Fahrer? Abschließend wurde kurz die Frage der Nutzung von Konfidenzintervallen zur Interpretation von Testergebnissen erörtert.
Im Anschluss an die Expertentagung fand die 5. Mitgliederversammlung der Deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie e.V. statt. Hieran nahmen 19 Mitglieder teil. Der Bericht des Vorstandes stellte die Aktivitäten der DGVP seit der letzten Mitgliederversammlung vor. Es ist festzustellen, dass die DGVP zunehmend zu fachlichen Stellungnahmen zu aktuellen Fragen der Verkehrspsychologie aufgefordert wird. Diese sind allerdings auch aus Sicht des Vorstandes noch immer zu stark auf Fragen der Begutachtung und Rehabilitation auffälliger Fahrer konzentriert. Es muss angestrebt werden, auch andere Felder der Verkehrspsychologie zu besetzen. Insgesamt kann aber der erfreuliche Fakt registriert werden, dass die DGVP ein ständig zunehmendes Gewicht in der Beratung von Behörden und Einrichtungen zu verkehrspsychologischen Problemstellungen bekommt. Nach dem Bericht des Schatzmeisters wurde der Vorstand einstimmig für das Geschäftsjahr 2003 entlastet. Das Protokoll der Mitgliederversammlung, der Bericht des Vorstandes und des Schatzmeisters wird demnächst an die Mitglieder versandt.
Am 05.11.2004 wurde im Hotel Estrel in Berlin das 3. Wissenschaftliche Symposium der DGVP durchgeführt. Es war diesmal dem Thema „Urteilsbildung in der medizinisch-psychologischen Fahreignungsdiagnostik-Beurteilungskriterien“ gewidmet. Diese Veranstaltung, zu der annähernd 300 Teilnehmer gekommen waren, kann als einer der bisherigen Höhepunkte in der Arbeit der Deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie e.V. eingestuft werden. Besonders hervorzuheben ist die Teilnahme von Joel Valmain aus dem Direktorat für Energie und Transport der Europäischen Union (DG TREN) in Brüssel, der in seinem Vortrag das Programm der Europäischen Union zur Anhebung der europäischen Verkehrssicherheit und hier insbesondere Maßnahmen im Bereich des Fahrerlaubniswesens vorstellte. Hier wird aus fachwissenschaftlicher Sicht die Arbeit am Annex III der 3. EU-Führerschein-Richtlinie besonders bedeutsam werden, da dieses Dokument die medizinischen Voraussetzungen zur Teilnahme am Straßenverkehr regelt. In der nachfolgenden Diskussion wurde unterstrichen, dass es unbedingt gelingen muss, hier auch psychologische Maßnahmen zu verankern. Herr Valmain stellte auch Gedanken zur Bewertung und Implementierung von Rehabilitationsmaßnahmen für auffällige Kraftfahrer vor.
Der Einführungsvortrag zur Fachthematik „Beurteilungskriterien“ wurde von Jürgen Brenner-Hartmann gehalten. Er stellte Struktur und Aufbau der Kriterien zur Beurteilung alkohol-, drogen- oder verkehrsauffälliger Fahrer dar. Herr Brenner-Hartmann hat als federführender Bearbeiter im Rahmen des Verbandes der Technischen Überwachungsvereine e.V. die Entwicklung der Beurteilungskriterien in den letzten Jahren maßgeblich mit gestaltet und verwies insbesondere auf die Mehrdimensionalität in der Struktur der Kriterien .
Es folgte ein Beitrag von Rolf Henninghausen zu „Medizinischen und klinisch-chemischen Befunden zur Beurteilung von Änderungen der Alkoholkonsumgewohnheiten“. Hier stand die Einführung einer klinisch-chemischen Verlaufsdiagnostik und anderer als der bisher gebräuchlichen Alkoholmarker im Vordergrund.
Egon Stephan verwies in seinem Beitrag „Die Begutachtung im Grenzbereich zwischen Abhängigkeit und Missbrauch“ ebenfalls auf die hohe Bedeutung einer Verlaufsdiagnostik. Er stellte die Problematik der Selbstwahrnehmung einer Alkoholproblematik und der schleichenden Entwicklung einer Alkoholkrankheit dar.
Nach der Mittagpause setzte Gerold Kauert das Programm mit seinem Beitrag zu „Toxikologischen Verfahren und Kriterien für die Beurteilung von Drogenkonsum und –abstinenz“ fort. Er stellte systematisch die gegenwärtigen Probleme dar, die bei der Beantwortung der gutachterlichen Fragen nach Qualität, Quantität und zeitlichem Verlauf eines Drogenkonsums entstehen und zeigte Lösungsmöglichkeiten auf.
Michael Hutter plädierte in seinem Beitrag „Zur Bedeutung von Persönlichkeitstests für eine fundierte Verkehrsverhaltensprognose“ für die Nutzung verkehrsspezifischer standardisierter Verfahren zur Erfassung von Persönlichkeitsfaktoren und Einstellungen. Selbst Testverfahren zur Erfassung von alkoholbezogenen Einstellungen können methodisch abgesichert und damit als zusätzliche Befundquelle in einer multimodalen Diagnostik verwandt werden.
Den Abschluss des wissenschaftlichen Programms bildete der Beitrag von Michael Rösler zur „Beurteilung der Kraftfahrereignung bei neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen“. Hier stellte der Referent die Probleme bei der wissenschaftlichen Fundierung psychiatrischer Diagnosen und ihrer Bezugsetzung zum Straßenverkehr dar.
Die folgende Diskussion griff verschiedene Aspekte der einzelnen Beiträge auf. Abschließend wurde unterstrichen, dass mit der Öffnung der Beurteilungskriterien für eine breite wissenschaftliche Diskussion die Grundlage für eine weiterhin wissenschaftlich fundierte und einen übergreifenden Konsens ermöglichende Entwicklung geschaffen wurde. Dadurch rückt das Ziel einer einheitlichen Anwendung durch verschiedene Träger von Begutachtungsstellen für Fahreignung näher.
Die Beiträge der Tagung werden in der Zeitschrift „Blutalkohol“ veröffentlicht.
Karin Müller
Schriftführerin
Berlin, den 06.11.2004