Anhang 2 zum 13. Informationsanschreiben der DGVP (4.St. Galler Tage 2005 „Kompensation im Alter“)
4. St. Galler Tage 2005, Schweiz – „Kompensation im Alter“
Am 23. und 24.03.2005 fanden im Kantonsspital St. Gallen die 4. St. Galler Tage 2005 mit über 100 Teilnehmern aus der Schweiz, Österreich, Italien und Deutschland statt. Der Kongress wurde von der schweizerischen Vereinigung für Verkehrspsychologie (VfV) ausgerichtet und befasste sich mit der Thematik „Kompensation im Alter“.
In seiner Begrüßungsansprache führte Herr Dr. phil. Martin Keller(Valens) aus, dass auf dem Kongress eine Annäherung an die Thematik „Kompensation und Mobilität im Alter“ aus behördlicher, juristischer, medizinischer und psychologischer Sicht erfolgen soll. In der Schweiz, wie in anderen europäischen Ländern, wurde das Thema „Fahren im Alter“ noch wenig beachtet. Ältere Fahrer sind auch nicht die größte Gruppe von Unfallverursachern. Die Folgen aus Unfällen mit älteren Automobilisten sind aber nicht selten sehr schwer. Die Ländertagung gibt die einmalige Gelegenheit in einer wichtigen Frage ein koordiniertes Vorgehen zum Thema anzustreben und dabei den Blick zur EU einzubeziehen. Herr Keller äußerte den Wunsch, dass ein „minimaler Konsens“ zwischen Italien und den deutschsprachigen Ländern Schweiz, Österreich sowie Deutschland gefunden wird. Zudem könnten langfristige Ziele die Bildung einer Arbeitsgruppe oder die Erarbeitung eines Prospekts zur Thematik „ältere Kraftfahrzeugführer“ sein.
Im ersten Beitrag ging Herr Prof. Dr. rer. publ. René Schaffhauser(St. Gallen) auf die Thematik „Aus juristischer Sicht“ ein und stellte zunächst dar, dass das Thema „Mobilität im Alter“ aufgrund der demografischen Entwicklung in den nächsten Jahren ein deutlich anderes Gewicht als bisher erhalten wird. Der Anteil der älteren Personen am Motorfahrzeugverkehr wird in den nächsten Jahren wachsen und der Aufrechterhaltung einer (Teil-)Mobilität älterer Kraftfahrzeugführer wird ein wesentliches Gewicht zuerkannt werden. Daraus ergibt sich aus juristischer Sicht die Frage, ob die Gesetzgebung und die Vollzugsbehörden in ausreichendem Maße Antworten auf solche Situationen bereitstellen. Herr Schaffhauser führte aus, dass dies nicht durchweg zutrifft, da das Recht und die Rechtspraxis teilweise noch zu sehr auf die Dichotomie „geeignet – ungeeignet“ ausgerichtet sind – also auf klare Trennungen und leicht überprüfbare Rechtsfolgen. Damit entsprechen sie jedoch weder den sehr unterschiedlichen Befunden über die Eignung von Personen noch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der besagt , dass Eingriffe (hier also: Beschränkungen bzw. Auflagen) nur soweit erfolgen dürfen, als diese zur Erreichung des Zieles (hier: Verkehrssicherheit) erforderlich sind. Seinen Vortrag abschließend resümierte Herr Schaffhauser, dass es nicht die eine, klare Trennlinie zwischen Fahreignungsfähigkeit und Ungeeignetheit/Unfähigkeit gibt, sondern unterschiedliche Zonen zwischen „problemlos“ und „problematisch“. Von daher muss es – so der Referent – zonenbezogene Lösungen geben, die im fördernden als auch im beschränkenden Bereich zu suchen sind. Daran anschließend wären Muster zu entwickeln, die allen Anforderungen genügen: Der Verkehrssicherheit, den Anliegen der Betroffenen und jenen der Praktikabilität.
Anschließend äußerte sich Herr Ernst Fröhlich (Thurgau) „Aus behördlicher Sicht“ zum Themenkomplex des Kongresses. Zunächst legte der Referent die Rechtsgrundlage in der Schweiz dar, nach der über 70jährige Ausweisinhaber alle zwei Jahre die Pflicht haben, sich einer vertrauensärztlichen Kontrolluntersuchung zu unterziehen (Art. 27 Punkt 1b der Verkehrszulassungsverordnung zum Strassenverkehrsgesetz (VZV)). Die kantonale Behörde kann die Kontrolluntersuchungen dabei den behandelnden Ärzten übertragen (Art 27 Punkt 2a VZV). Anschließend stellte Herr Fröhlich betriebswirtschaftliche Überlegungen des Kantons Thurgau in Bezug auf die demografische Entwicklung und die Rechtsgrundlage an. Derzeit werden rund 6.000 ärztliche Kontrolluntersuchungen pro Jahr von Personen über 70 Jahren durchgeführt. Im Jahr 2035 werden es in Thurgau ca. 18.000 ärztliche Kontrolluntersuchungen pro Jahr sein. Daraus ergibt sich die Frage, wie dies finanziell zukünftig machbar ist und wer die ärztlichen Kontrolluntersuchungen durchführen wird. Der Referent führte dazu aus, dass neben dem Hausarzt, der bisher vornehmlich die ärztlichen Untersuchungen durchführt, auch der Amtsarzt, der Verkehrsmediziner sowie der Verkehrspsychologe denkbar sind. Allerdings bliebe der Hausarzt für die Verwaltungsbehörde weiterhin in einer zentralen Rolle, so Herr Fröhlich, da dieser in einer vertraulichen Beziehung zum Patienten steht. In diesem Zusammenhang wurde berichtet, dass der Hausarzt gegenüber der Behörde und der Polizei ein Melderecht, jedoch keine Meldepflicht hat.
In dem nachfolgenden Beitrag referierte Herr Prof. Dr. rer. nat. Lutz Jäncke (Zürich) über die „Plastizität im Alter“. Zunächst wurde in dem Referat anhand von Untersuchungen dargestellt, dass die kognitiven Leistungen im Alter nicht generell abnehmen, da nicht alle Fähigkeitsbereiche gleichförmig altern und die Befunde nicht immer die erwarteten Altersdifferenzen zu Ungunsten älterer Menschen zeigen. So führte Herr Jäncke aus, dass das Gehirn bis ans Lebensende plastisch sei und damit eine enorme Lernfähigkeit gewährleistet ist. Des Weiteren haben psychosoziale Variablen, wie z. B. soziale Interaktionen oder die Lebenszufriedenheit, einen bemerkenswerten Einfluss auf kognitive Leistungen. In einem zweiten Teil seines Vortrages referierte Herr Jäncke über die „Fahreignung im Alter“ und legte zunächst dar, dass beim Autofahren eher automatisierte Prozesse und weniger explizite kognitive Prozesse beteiligt sind. Weiter wurde ausgeführt, dass die Autofahrleistung bei Älteren bisher wenig untersucht worden ist, die Ergebnisse jedoch darauf hinweisen, dass die Unterschiede zwischen jüngeren und älteren Kraftfahrzeugführern meist klein sind und wahrscheinlich keine praktische Relevanz haben. Das Problem besteht eher darin, so der Referent, dass ältere Menschen im Hinblick auf ihre kognitiven Leistungen und ihre Fahreignung zunehmend verunsichert sind. Denkbare Maßnahmen zur Verbesserung des Fahrverhaltens von Senioren sind der Aufbau von Sicherheit und die Steigerung der Fahrleistung. Dies kann z. B. über eine Aufklärung über die Lernfähigkeit des Gehirns, Auffrischung von Regeln, intensives Trainieren des Fahrverhaltens und Stressimpfung erfolgen, wie Herr Jäncke abschließend ausführte. Ein wichtiger Aspekt ist allerdings, dass eine dezidierte Demenzdiagnostik im vorangeschrittenen Alter notwendig ist, um an Demenzen erkrankte ältere Personen sicher zu identifizieren. In diesem Zusammenhang ist die Verwendung einfacher Screeningtests (z.B. MMSE) nicht zu empfehlen, da sie die kognitiven Leistungen älterer Menschen vor allem im Hinblick auf das Fahrverhalten nicht präzise genug messen.
Anschließend wurde „Die Situation bezüglich Fahren und Alter in den einzelnen Ländern Österreich, Schweiz und Deutschland“ von den Vorsitzenden der Sektion Verkehrspsychologie in den jeweiligen Berufsverbänden der Länder dargestellt. Frau Dr. Birgit Bukasa (Österreich) zeigte zunächst die demografische Entwicklung in Österreich auf, aus der hervorgeht, dass der Anteil von Personen über 60 Jahren an der Bevölkerung in den nächsten 25 Jahren von derzeit 22 auf 32 % steigen wird. Anschließend wurden von der Referentin zum Unfallrisiko im Straßenverkehr Daten präsentiert, die zeigen, dass Personen zwischen 65 und 99 Jahren am häufigsten als Kfz-Lenker zu Tode kommen (knapp 40%). Zur Unfallhäufigkeit dieser Gruppe wurde außerdem aufgezeigt, dass über die Jahre hinweg die Absolutzahlen zwar sinken. Werden jedoch die gefahrenen Kilometer in die statischen Auswertungen einbezogen, so steigt das Unfallrisiko mit 75 Jahren deutlich an. Zum Schluss ihrer Ausführungen ging Frau Bukasa auf die rechtlichen Bedingungen zur Fahreignung bei älteren Personen in Österreich ein. Gemäß Führerscheingesetz (FSG) werden ab dem vollendeten 60. Lebensjahr die Lenkberechtigung für die Klasse C auf 2 Jahre, für die Unterklasse C1 auf 5 Jahre und für die Klasse D ebenfalls nur mehr auf 2 Jahre befristet erteilt. Jede Verlängerung ist an ein positives ärztliches Gutachten gebunden. Anlässe für eine verkehrspsychologische Untersuchung sind laut österreichischer Führerscheingesetz-Gesundheitsverordnung (FSG-GV) einerseits Zweifel an der Fahreignung aufgrund der Vorgeschichte oder der ärztlichen Untersuchung andererseits, wenn auf Grund der ärztlichen Untersuchung ein Leistungsabbau im Vergleich zur Altersnorm vermutet wird. Darüber hinaus, so Frau Bukasa, werden in Österreich jedoch verkehrspsychologische Untersuchungen bei älteren Kraftfahrzeugführern vor allem in Zusammenhang mit anderen Untersuchungsanlässen, etwa einer alkoholisierten Verkehrsteilnahme, durchgeführt. Zur Situation in der Schweiz äußerte sich Frau Dr. phil. Jacqueline Bächli-Biétry(Schweiz). Die Referentin stellte zunächst heraus, dass ähnlich wie in Deutschland und Österreich auch in der Schweiz zukünftig eine steigende Anzahl älterer Personen zu den Führerausweisbesitzern gehören wird, deren Mobilitätsbedürfnis hoch ist. Nach dem Straßenverkehrsgesetz (SVG) und der Verkehrszulassungsverordnung (VZV) müssen sich Motorfahrzeuglenker nach ihrem 70. Lebensjahr alle zwei Jahre einer (vertrauens-) ärztlichen Kontrolluntersuchung unterziehen. Des Weiteren ist im SVG das Melderecht des Arztes geregelt: Jeder Arzt kann Personen, die wegen körperlicher und geistiger Krankheiten oder Gebrechen oder wegen Süchten zur sicheren Führung von Motorfahrzeugen nicht fähig sind, der zuständigen Behörde melden. Frau Bächli-Biétry klärte im weiteren Verlauf ihres Vortrages darüber auf, dass die regulären Untersuchungen der über 70jährigen durch Haus- und Vertrauensärzte erfolgen, wobei große Unterschiede zwischen den Kantonen bestehen. Aktuelle Bestrebungen in der Schweiz, so die Referentin, sind die Weiterbildung der Vertrauensärzte durch ausgewiesene Verkehrsmediziner (Festlegung der Ausbildungsstandards) sowie die Weiterbildung der Hausärzte. Anschließend sprach Herr Adalbert Allhoff-Cramer (Deutschland) zur Situation bezüglich Fahren und Alter in Deutschland. Der Referent führte aus, dass es in Deutschland bislang keine generellen periodischen Untersuchungen der körperlichen und geistigen Eignung für ältere Kraftfahrer gibt. In zwei Anlagen der deutschen Fahrerlaubnisverordnung (§ 11 „Eignung“) ist jedoch geregelt, dass ältere Fahrer mit erhöhter Beanspruchung (Berufskraftfahrer, Personenbeförderung) neben Anforderungen an den allgemeinen Gesundheitszustand und das Sehvermögen auch besondere Anforderungen an (a) die Belastbarkeit, (b) die Orientierungsleistung, (c) Konzentrationsleistung, (d) Aufmerksamkeitsleistung und (e) die Reaktionsfähigkeit erfüllen müssen. Diesen Nachweis müssen Bewerber um die Verlängerung einer Fahrerlaubnis der Klassen D, D1, DE oder D1E ab dem vollendeten 50. Lebensjahr, Bewerber um die Verlängerung der Erlaubnis zur Fahrgastbeförderung ab dem 60. Lebensjahr führen. Der Nachweis wird durch ein betriebs- oder arbeitsmedizinisches Gutachten oder ein Gutachten einer Begutachtungsstelle für Fahreignung erbracht.
Herr PD Dr. Urs Gerhard (Basel) ging in seinem Beitrag „Aus verkehrspsychologischer Sicht“ auf die Thematik Fahren im Alter näher ein. Dazu führte der Referent zunächst aus, dass die Fahreignung im Alter von mehreren Faktorengruppen wie z. B. der kognitiven Funktionstüchtigkeit, dem Charakter, dem Ausbildungsstand und der Fahrpraxis sowie dem momentanen Gesundheitszustand abhängt. Zudem sind die für das Führen eines Kraftfahrzeuges verkehrsrelevanten kognitiv-psychomotorischen Funktionen fast vollkommen identisch mit den kognitiven Funktionen, die im Alter besonders beeinträchtigt sind. Dazu zählen u. a. das Wahrnehmungstempo, die geteilte Aufmerksamkeit, das periphere Sehen, die Informationsverarbeitung unter Stress, das Herausfiltern irrelevanter Informationen und das Übersehen relevanter Reize, die Reaktionszeit sowie die Merkfähigkeit. Nach Herrn Gerhard ergibt sich demnach für die Fahrtauglichkeitsdiagnostik im Alter die Forderung nach einer umfangreichen, breit abgestützten Testbatterie. Zudem dürfen spezifische Störungen weder übersehen noch überbewertet werden und es müssen auch die Kompensationsmöglichkeiten kognitiver Defizite durch Fahrerfahrung und Fahrstil in die Fahreignungsbegutachtung einbezogen werden. Der Referent führte weiter aus, dass bei diagnostischen Grenzfällen auch eine Fahrverhaltensbeobachtung als Ergänzung zu den Leistungstests sinnvoll sein kann. Diese stellt jedoch weder einen Ersatz zu den Leistungstests noch einen „Goldstandard“ dar. Zudem sind Leistungstests reliabler; die Fahrprobe hat die höhere Augenscheinvalidität. Da die amtlich angeordnete Kontrollfahrt in der Schweiz nicht wiederholt werden kann, stellt sie eine endgültige Aussage über die Eignung oder Nicht-Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeuges dar. Deshalb haben Senioren günstigere Aussichten auf die Erhaltung ihres Führerscheins, wenn sie sich einer psychologischen Prüfung unterziehen, die individueller auf sie eingehen kann.
Anschließend referierte Herr Prof. Dr. Egon Stephan (Köln) zu dem Thema „Zur diagnostischen Messung der Fahrroutine als wesentlicher Teil der Leistungsfähigkeit“. Er stellte hierbei das Kölner Verfahren zur vergleichenden Erfassung der kognitiven Beanspruchung im Straßenverkehr (K-VEBIS) vor, das im Auftrag der Forschungsvereinigung Automobiltechnik und der Bundesanstalt für Straßenwesen entwickelt worden war. Bei diesem Verfahren wird in einem kombinierten Labor-Feldversuch (Fahrsimulation mit Zweitaufgabe im Labor sowie Fahrbeobachtungstest auf standardisierter Verkehrsstrecke wiederum in Verbindung mit der Zweitaufgabe) kontinuierlich die bei Bewältigung der Fahraufgabe verbleibende Restverarbeitungskapazität lückenlos durch die Zweitaufgabe gemessen. Bei Versuchspersonen im Alter von 30 – 60 Jahren war auf der Basis der Leistung in der Fahrsimulation sowie der Zweitaufgabe im Labor eine exakte Vorhersage der Leistungen im Fahrverhaltenstest möglich. Bei den Untersuchungsteilnehmern im Lebensalter zwischen 60 und 85 Jahren war die Leistung beim Fahrverhaltenstest (inkl. der Zweitaufgabe) deutlich besser als im Labor. Diese über der Erwartung liegende Leistungen im Feld können als direkter Leistungsgewinn auf der Basis der Fahrroutine gewertet werden. Dies bedeutet, dass das K-VEBIS in Verbindung mit den bereits vorliegenden Normdaten es erlaubt, beim einzelnen älteren Kraftfahrer die bei ihm zu seiner aktuellen Leistungsdisposition hinzukommende positive Auswirkung seiner Fahrerfahrung zu quantifizieren. Der Referent wies darauf hin, dass beabsichtigt sei, in einem eigenen Forschungsprojekt zu prüfen, inwieweit entsprechende Nachweise gegebenenfalls die Entscheidungsgrundlage für die Feststellung einer bedingten Eignung, d. h. die Erteilung oder Belassung einer Fahrerlaubnis (beispielsweise mit Beschränkung auf einen festgelegten Umkreis um den eigenen Wohnort) für ältere Kraftfahrer bilden können.
Herr Dr. med. Rolf Seeger (Zürich) ging in seinem Referat auf das„Fahren im Alter – Kompensationsmöglichkeiten und ihre Grenzen aus verkehrsmedizinischer Sicht“ ein. Zunächst wurde ausgeführt, dass altersbedingte physiologisch auftretende Einschränkungen beim gesunden älteren Lenker im Bereich des Bewegungsapparates sowie in einer kognitiven Verlangsamung liegen. Der gesunde Betagte kompensiert seine Einschränkungen in der Regel jedoch noch für einige Zeit und schränkt sich schließlich selber in seiner Fahrleistung zunehmend ein. Werden verkehrsrelevante Leistungsmängel bemerkt, so wird oftmals freiwillig auf den Führerausweis – durchschnittlich im Alter von 80 bis 85 Jahren – verzichtet. Kompensationsmöglichkeiten können die Einschränkung von Fahrbedürfnissen, die Anpassung des Fahrverhaltens, technische Einrichtungen, medizinische Maßnahmen oder auch die Verbesserung der Fahrfertigkeit sein, wie der Referent weiter ausführte. Medizinische Voraussetzungen für eine mögliche Kompensation sind u. a. die Einsichtsfähigkeit und das Erkennen von Defiziten, die Lernfähigkeit, eine realitätsgerechte Wahrnehmung und eine situationsgerechte Verhaltenssteuerung. Zudem dürfen keine Erkrankungen vorliegen, die eine Fahreignung ausschließen. Herr Seeger stellte weiter dar, dass mit zunehmenden Alter immer häufiger verkehrsrelevante Krankheitszustände wie z. B. eine beginnende Demenz, nachlassendes Sehvermögen, Schlaganfälle oder Kreislauferkrankungen auftreten. Diese Krankheiten sind die Hauptursachen für eine Einschränkung der Fahreignung bei betagten Kraftfahrzeugführern. Dabei spielt die beginnende Demenz mit Abstand die wichtigste Rolle. Der Referent schlussfolgerte daher, dass die Fahreignung nicht „altersabhängig“, sondern „krankheitsabhängig“ ist und dass deshalb bei fraglicher Fahreignung im Alter stets eine medizinische Ursache auszuschließen ist, bei der keine oder nur unzureichende Kompensationsmöglichkeiten bestehen. Anhand der klinischen Abklärungen sei eine abschießende Beurteilung der Fahreignung in der Mehrzahl der Fälle möglich und nur in Grenzfällen (25 – 30%) seien weitere Untersuchungen wie beispielsweise eine ärztlich oder (neuro-)psychologisch begleitete Fahrprobe angezeigt.
In ihrem Beitrag „Mobilitätsvoraussetzungen von Senioren und Seniorinnen: Wissen und Vorurteile“ ging Frau Mag. Doris Wunsch, die ihren Beitrag gemeinsam mit Herrn Prof. Dr. Ralf Risser (Wien) vorbereitet hatte, zunächst auf bestehende Vorurteile und falsche Annahmen über die Verkehrsteilnahme von Senioren ein. Zu diesen Vorurteilen gehört z. B., dass die Gefährdung durch ältere Autofahrer besonders hoch ist, die Leistungsverschlechterung älterer Menschen kontinuierlich und über alle Individuen hinweg in sämtlichen Bereichen erfolgt und es kaum Kompensationsmöglichkeiten gibt. Zudem wird häufig angenommen, dass die Bedeutung der Mobilität für Senioren gering ist. Frau Wunsch führte aus, dass eine Einschränkung der Mobilität jedoch eine Beeinträchtigung der Gesundheit im Sinne der WHO-Definition darstellt, da sie die Möglichkeit beschneidet, selbst für sein Wohlbefinden zu sorgen. Des Weiteren ist unklar, welche Unfallgefahr von älteren Kraftfahrzeugführern tatsächlich ausgeht. Die Referentin stellte dar, dass die Anzahl der Verunglückten und Getöteten mit dem Alter abnimmt und erst ab der Altersgruppe der über 74jährigen wieder steigt. Besonders hoch ist das Risiko von Senioren im Straßenverkehr als Fußgänger zu verunglücken. Des Weiteren wurde aufgezeigt, dass Senioren häufig an Unfällen an Kreuzungen, bei Rotlichtüberfahrungen, beim Einparken und Rückwärtsfahren, beim Abbiegen nach links sowie beim Fahren hintereinander beteiligt sind. Selten sind schwere Unfälle, wie z. B. durch Überholen oder Kontrollverlust des Fahrzeugs. Frau Wunsch legte am Ende ihres Beitrages dar, dass Maßnahmen zur Verbesserung der Mobilität im Alter von Seiten des Individuums, der Gesellschaft, der Infrastruktur und des Fahrzeugs angegriffen werden müssen. Das Wissen und das Verständnis für die Veränderungen im Alter muss auf der Individuums- aber auch auf der Gesellschaftsebene erhöht werden. Zudem bieten sich zur Erhaltung der körperlichen und geistigen Fähigkeit und Mobilität Trainings, Kurse oder auch Fortbildungen an.
Herr Dr. Thomas Wagner (Dresden) ging in seinem Beitrag auf die„Psychologische Fahrverhaltensbeobachtung – Theorie und Praxis“ ein. Die psychologische Fahrverhaltensbeobachtung wurde als eine psychologische Methode vorgestellt, bei der in Ergänzung von Leistungstestverfahren in einer standardisierten Verkehrssituation die Ausprägung von verkehrsrelevanten Leistungsvoraussetzungen hinsichtlich der psychischen Leistungsfähigkeit unter realen Verkehrsbedingungen erfasst wird. Im Ergebnis soll dabei festgestellt werden, ob der beobachtete Kraftfahrer noch hinreichend in der Lage ist, den Anforderungen für ein sicheres Führen von Kraftfahrzeugen gerecht zu werden. Herr Wagner gab zunächst einen historischen Abriss zu den Methoden der Analyse des Fahrverhaltens in der Verkehrspsychologie und stellte die Abgrenzung der psychologischen Fahrverhaltensbeobachtung zur Fahrprobe und zur Fahrprüfung dar. Der Referent führte weiter aus, dass die psychologische Fahrverhaltensbeobachtung – unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und des Übermaßverbotes – ganz am Ende einer medizinisch-psychologischen Untersuchung steht und in weniger als 1% der Begutachtungsfälle angewendet wird. Im praktischen Teil des Vortrages wurden die methodischen Entwicklungsschritte beschrieben, wobei das dargestellte Verfahren die Erfassung und Beobachtung folgender Leistungsvoraussetzungen unter realen Verkehrsbedingungen vorsieht: Orientierungsleistung, Konzentration und Aufmerksamkeit, risikobezogene Selbstkontrolle sowie Handlungszuverlässigkeit. Schließlich wurden noch Besonderheiten bei der Indikation, Durchführung und Auswertung der psychologischen Fahrverhaltensbeobachtung diskutiert.
Über „Erfahrungen in der verkehrspsychologischen Begutachtung der über 60jährigen“ referierte anschließend Herr Dr. Max Dorfer (Bozen). Herr Dorfer legte zunächst dar, dass in Italien der Führerschein der Klassen A und B bis zum 50. Lebensjahr alle 10 Jahre, bis zum 70. Lebensjahr alle 5 Jahre und ab dem 70. Lebensjahr alle 3 Jahre erneuert wird. Die Erneuerung des Führerscheins der Klasse C erfolgt bis zum 65. Lebensjahr alle 5 Jahre, ab dem 65. Lebensjahr alle 2 Jahre. Der Führerschein der Klasse D wird bis zum 60. Lebensjahr alle 5 Jahre erneuert und vom 60. bis zum 65. Lebensjahr jedes Jahr. Diese Untersuchungen führt bis auf die Erneuerung des Führerscheins der Klasse C ab dem 65. Lebensjahr und der Klasse D ab dem 60. Lebensjahr der Amtsarzt durch. Bei bestimmten Erkrankungen und/oder Verkehrsauffälligkeiten (z. B. Trunkenheit am Steuer) gibt es darüber hinaus andere gesetzliche Regelungen. Des Weiteren stellte der Referent Ergebnisse von 500 gesunden Senioren vor, die in den Jahren 1997 bis 2001 an einer verkehrspsychologische Untersuchung teilgenommen haben. Das Alter der Probanden variierte zwischen 70 und 97 Jahren bei einem Durchschnitt von 75,6 Jahren. Als Untersuchungsverfahren wurde eine Testbatterie des Wiener Testsystems eingesetzt, das die Testverfahren RT, DT, LVT, TAVTMB, KBP, COG, CORSI[1] beinhaltete. In der Auswertung zeigte sich, dass der Prozentrang 16 in den Verfahren RT von 34,6 % der Probanden, im LVT von 59,5% der Senioren und im DT von 93,2% der Älteren nicht erreicht wurde. Am Ende seines Beitrages führte Herr Dorfer aus, dass bei der Fahreignungsbegutachtung von Senioren die Verkehrsvorgeschichte, die Fahrgewohnheiten, die intellektuelle Leistungsfähigkeit und die medizinischen Befunde gemeinsam betrachtet werden müssen. Zudem müssen bei älteren Kraftfahrzeugführern Erkenntnisse über die eigenen Leistungsgrenzen, Eigenkritikfähigkeit und Einsicht sowie vorsichtsbetonte Einstellungen vorhanden sein.
Herr Dr. Wolfgang Schubert (Berlin) führte in die Thematik „Ältere Kraftfahrzeugführer – eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung“ ein. Es wurde zunächst auf die demografische Entwicklung in Deutschland eingegangen, die sich in den nächsten Jahren in einem überproportionalem Anstieg in Bezug auf den Führerscheinbesitz älterer Menschen als auch in einer erhöhten Inanspruchnahme der PKW-Nutzung von Senioren bemerkbar machen wird. Zudem steht der steten Zunahme des Fahrzeugbestandes, der Verkehrsleistung und der Höchstgeschwindigkeit der Fahrzeuge seit Anfang der 90er Jahre eine Stagnation der Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur gegenüber, was sich in einer höheren Verkehrsdichte, einer Überlastung bestimmter Verkehrswege sowie einer größeren Staugefahr bemerkbar macht. Dies hat wiederum Auswirkungen auf das Verkehrsverhalten und das Miteinander von „Alt und Jung“ im Straßenverkehr. Der Referent führte weiter aus, dass unter Berücksichtigung der Morbiditätsentwicklung und der Fortschritte der Medizin – auch unter Beachtung des Arzneimittelverbrauches älterer Bürger in Deutschland – sowie der Psychologie in der Therapie und Rehabilitation von Erkrankungen nicht mehr eine oder mehrere Krankheiten an sich die entscheidende Größe hinsichtlich der Erfüllung der gefahrlosen bzw. bedingten Voraussetzungen als Mindestanforderungen zur Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr ist. Es kommt vielmehr darauf an, wie die Betroffenen in der Lage sind, mit ihren „Beeinträchtigungen“ unter psychologischen Aspekten – z. B. im Persönlichkeitsbereich die Selbstkontrolle und Eigenkritikfähigkeit – umzugehen. Dabei ist die Selbstüberprüfungspflicht jedes Verkehrsteilnehmers – und besonders des Kraftfahrers – im § 2 Abs. 1 Satz 1 der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV, 1998) geregelt. Zukünftig wäre denkbar, so der Referent, dass an das kalendarische Alter gebundene, periodische fakultative Untersuchungen (mit möglichen Anreiz- bzw. Belohnungssystemen) zur Erhaltung der Mobilität angeboten werden. Dabei sollten spezifische, die Fahreignung einschränkende oder ausschließende, gesundheitliche, psychofunktionale und andere Beeinträchtigungen – auch unter Berücksichtigung kompensatorischer Effekte – erfasst werden.
Den Abschluss des Programms am 23. März 2005 bildete der Beitrag von Herrn PD Dr. Michael Berg (Berlin), der über „Ältere Kraftfahrzeugführer – psychofunktionale Leistungsvoraussetzungen“ referierte. Herr Berg legte dar, dass Mobilität im Alter zu erhalten auch heißt, nach dem Umgang mit Leistungsdefiziten zu fragen. Um Hinweise für psychologische Therapie- und Trainingsmethoden zu geben, muss man wissen, wo die Defizite liegen. Dieses erlauben psychologische Testverfahren, die sich an dem vorhandenen Wissen um die Gegenstandsbereiche orientieren, in denen Leistungsdefizite zu erwarten sind. Als Testgegenstände sind es wenige Bereiche, in denen menschliches Leistungsvermögen mit dem Alter nachzulassen pflegt. Im Mittelpunkt stehen dabei Aufmerksamkeits- und Arbeitsgedächtnisleistungen. Der Referent stellte in diesem Zusammenhang die Frage in den Raum, woher wir bei einem unzureichenden Ergebnis in einem Gedächtnistest einer Testperson wissen, dass es sich um ein Gedächtnisdefizit und nicht etwa um ein Aufmerksamkeitsdefizit, das ebenso gut denkbar wäre, handelt. Eine Lösung des Problems der differentiellen Gültigkeit besteht in der Verwendung eines Testsystems, in dem von Test zu Test nur die reine Testanforderung variiert. Herr Berg stellte eine Untersuchung vor, in der mit einem solchen Testsystem Funktionen der Aufmerksamkeit und des Arbeitsgedächtnisses einer Seniorenstichprobe mit einer Stichprobe jüngeren Alters verglichen wurden. In den Ergebnissen zeigte sich, dass im Alter die Gedächtnisleistung deutlicher als die Aufmerksamkeitsleistung nachlässt. Die Unterschiede zwischen den jüngeren und älteren Probanden lagen v. a. im Zeitbedarf – sowohl für das Einprägen als auch für das Abrufen des Testmaterials.
Am zweiten Kongresstag wurden Begutachtungsfälle der Schweiz und aus Österreich vorgestellt und im Plenum diskutiert.
Den Abschluss der 4. St. Galler Tage stellte eine Podiumsdiskussion mit den Vorsitzenden der Berufsverbände von Deutschland, Österreich, der Schweiz und Italien sowie Vertretern verkehrspsychologischer Fachgesellschaften dar. Gemeinsam mit dem Plenum wurde eine Stellungnahme an die EU-Kommission mit der Zielstellung entwickelt, die Psychologie im Rahmen der Harmonisierung in die EU-Führerscheinrichtlinie zu integrieren. Die Begutachtung der körperlichen und geistigen Eignung von Kraftfahrzeugführern versteht sich als eine interdisziplinäre zwischen Psychologen und Medizinern zu bearbeitende Aufgabenstellung. In diesem Zusammenhang wurde auch auf die von den Fachgesellschaften Deutsche Gesellschaft für Verkehrspsychologie (DGVP) und Deutsche Gesellschaft für Verkehrsmedizin (DGVM) gemeinsam veröffentlichten „Beurteilungskriterien“ (Kirschbaum-Verlag Bonn, 2005) bei der Urteilsbildung in der medizinisch-psychologischen Fahreignungsdiagnostik verwiesen.
Dr. W. Schubert, 1. Vorsitzender DGVP, Berlin, D
D. Glaser, Universität Potsdam, D
Dr. M. Keller, Klinik Valens, CH
Erklärung der psychologischen Berufsverbände von Deutschland, Österreich, Schweiz und Italien sowie fachwissenschaftlicher Gesellschaften der Verkehrspsychologie zur EU-Führerscheinrichtlinie
Anlässlich der 4.St.Galler Tage vom 23.-24.3.2005 zum Thema Fahreignung und Kompensation im Alter, an denen über 100 führende ExpertInnen der Verkehrspsychologie in Europa teilgenommen haben, wurden folgende Leitgedanken formuliert:
Die Beurteilung der Fahreignung ist eine Aufgabe der Verkehrsmedizin und Verkehrspsychologie. Diese interdisziplinäre Zusammenarbeit anerkannter Einrichtungen hat sich in zahlreichen europäischen Ländern bewährt. Sie sollte daher in der EU-Führerscheinrichtlinie zur körperlichen und geistigen Eignung von Kraftfahrzeugführern – durch Benennung der Verkehrspsychologie – verankert werden.
Die Fahreignung, insbesondere die Verkehrsverhaltensprognose, kann nur unzureichend ohne die Verkehrspsychologie beurteilt werden.
Der besondere Beitrag der Verkehrspsychologie umfasst:
· Wissenschaftlich begründete Beurteilung verkehrsrelevanter Leistungs- und Persönlichkeitsaspekte. Ziel ist die Prognose zukünftigen Verhaltens im Straßenverkehr
· Beurteilung nach einheitlichen fachpsychologischen Methoden und Standards
· Anwendung verkehrspsychologischer Maßnahmen zur Förderung und Erhaltung der Mobilität
· Methoden der Einstellungs- und Verhaltensänderung zur Wiederherstellung der Kraftfahrereignung
· Berücksichtigung und Weiterentwicklung der Qualitätssicherung und Wahrung des Verbraucher- bzw. Konsumentenschutzes
· Forschung und Weiterentwicklung zu Mobilität, Verkehrssicherheit und Gestaltung der Verkehrsumwelt.
Dr. Martin Keller
Tagungspräsident der 4. St.Galler Tage
Dipl.-Psych.Adalbert Allhoff-Cramer
Vorsitzender der Sektion Verkehrspsychologie des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V.
Dr. Birgit Bukasa
Vorsitzende der Sektion Verkehrspsychologie des Berufsverbandes Österreichischer Psychologinnen und Psychologen
Dr. Max Dorfer
Mitglied des Rats der nationalen Psychologenkammer Italiens und Vertreter Italiens in der Task Force for Traffic Psychology der Europäischen Berufsverbände für Psychologie
Dr. Jacqueline Bächli-Biétry
Präsidentin der Schweizerischen Vereinigung für Verkehrspsychologie
Dr. Wolfgang Schubert
Vorsitzender des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie e.V.
Prof. Dr. Egon Stephan
Sprecher der Fachgruppe Verkehrspsychologie in der Deutschen Gesellschaft für Psychologie e.V.
[1] RT: Wiener Reaktionstest; DT: Wiener Determinationstest; LVT: Linienverfolgungstest; TAVTMB: Tachistoskopischer Verkehrsauffassungstest Mannheim Bildschirmvorgabe; KBP: Kurzzeit Beobachtungsprobe; COG: Cognitrone; CORSI: Corsi-Block-Tapping-Test